Was bedeutet Glück?

Wir hatten uns entschieden, eine der vielen Buchten zu besuchen, wo man Wale und ihre Babies beobachten kann. Die werdenden Mütter verlassen den Alaska-Winter und schwimmen südwärts nach Mexiko, um in ruhigen, wärmeren Gewässern ihre nicht so niedlichen Kinder auf die Welt zu bringen. Die Strecke kann bis 12’000 km betragen, die Geschwindigkeit der grössten Tiere der Welt beträgt ca. 10 km in der Stunde. Wenn es wärmer wird in Alaska, schwimmen sie zurück.

Durch die Geburt haben die Wale sozusagen „mexikanisches Bürgerrecht“ und sind sehr geschützt. Einige Orte an der Küste tragen den Namen „Ballenas“, was auf Spanisch „Wale“ bedeutet. Vom Süden her ist eine dieser grossen Wal-Lagunen auf einer Naturstrasse erreichbar. Der Begriff „Naturstrasse“ ist hier in Mexiko vieldeutig.

SAN JUANICO sollte unser Ausgangspunkt sein für diese Reise nordwärts. Dort trafen wir auf ein Paar aus der USA , das vergnügt beim zweiten Bier sass; sie hatten unsere geplante Strecke eben glücklich hinter sich, allerdings in entgegengesetzter Richtung; sie seien gut zu machen, diese zirka 100 Kilometer, auch wenn halt manchmal etwas holperig.

Ja, dieses „etwas holperig“ war uns inzwischen bekannt, aber die erneuerten Stossdämpfer unseres Camper Vans konnten ja einiges auffangen. Wir machten uns auf den Weg, immer schön nordwärts, immer schön geradeaus. Nach zwanzig Kilometern ist man bereits recht gut durchgeschüttelt, jedoch immer noch neugierig auf die Fortsetzung; nach dreissig Kilometern lässt die Neugierde nach, da man bereits genug hat von Steinen und Schlaglöchern; nach spätestens vierzig Kilometern wäre es Zeit, eine Pause einlegen, dies zum Wohle von Mensch und Auto; jedoch, man wartet zu, bis man mindestens die halbe Strecke hinter sich hat, das heisst fünfzig Kilometer.

Schliesslich wird man zum Anhalten gezwungen; an einer Kreuzung liegt nämlich eine verrostete Tafel im steinigen Wüstensand. Es ist der Wegweiser. Wir entzifferten die vier Möglichkeiten, von denen wir ja eine hinter uns hatten.

Welche Richtung nun?

Wir entschieden uns für SAN JOSE DE GRACIA; vielleicht war dies unser Nest für die Nacht, vielleicht ein Dorf oder …. gar nichts …. wir „rumpelten“ durch ein immer enger werdendes Tal …. bis zu einem Tor …. einem „Gatter“! Für mich jeweils ein Kraftakt, „das Schloss“ aus Seilen, Schnüren oder Drähten zu “knacken“, noch schwieriger, es wieder „fachmännisch“ zu schliessen.

Wir waren „drinnen“, parkten in der Nähe des „Tors“ und hörten alsbald Hundegebell, ein Zeichen von Leben; durch die Palmen sahen wir ein schwaches Licht. Wo Palmen sind, da ist Wasser; wo es Wasser hat, ist Leben.

Ich freute mich, packte Stühle und den Tisch aus dem Camper Bus, dazu den Rotwein, der zum roten Himmel der untergehenden Sonne passte. Kurzum, ich fühlte mich bereits „zu Hause“ und freute mich, die Nacht „innerhalb des Dorfgrenze“ zu verbringen, ähnlich wie hinter einer Stadtmauer.

Dan sass schweigend da, mit etwas besorgter Miene: Was, wenn es den Menschen mit den Hunden nicht passt, dass „Fremde“ hier sind, was, wenn die Strasse morgen noch schlechter wird, was, wenn das Auto eine Panne hat, was wenn, was wenn … ??

Ich verstand: mein Mann war von der strapaziösen Fahrt erschöpft. Da gab es nur eines … ihm ein Mahl zubereiten, am besten seine geliebten „Penne arrabiata“ mit der scharfen Tomaten-Sauce und mit viel, viel Parmesan; und zum Apéro einen kleinen Jägermeister, jawohl, auch diesen kann man in Mexiko finden.

Dan richtete unsere Freiluft-Küche ein, ich begann Zwiebeln und Knoblauch zu schneiden, während er sich für eine nächtliche „Ortsbesichtigung“ entfernte; wir hatten in der Nähe tatsächlich eine Strassenlampe entdeckt, die allerdings nicht brannte; ich erwartete wiederum Hundegebell, aber es blieb ruhig; falls es Behausungen hatte, so waren diese wohl kaum bewohnt.

Seine Lebensgeister schienen geweckt zu sein, als er wieder auftauchte: Das sei vermutlich eine recht interessante Siedlung, deren Strasse vielleicht weiterführe über einen Pass … und wir könnten morgen über diesen Pass weiterfahren … das tönte gut … ja, ja, morgen … wir werden sehen … vamos a ver … und falls dies unsere „letzte Mahlzeit“ sein sollte, lass› sie uns doppelt geniessen!

Ich verkroch mich frühzeitig in den Camper, während Dan noch lange draussen sass bei aufgehendem Mond und eine Melodie summte; in der Gewissheit, dass wir in der Nähe „unsere Wachthunde“ hatten, schlief ich ein.

Nach dem so wichtigen Morgenkaffee waren wir wieder für jegliches Abenteuer bereit; vorerst aber ging’s zum „Auskundschaften“ dieses Fleckens „San José de Gracia“.

Die ersten Lebewesen, die uns entgegenkamen, waren ein „Ranchero“ oder „Vaquero“ hoch zu Ross. „Buenos Dias – Guten Tag“; unser Grüssen, möglichst auf Spanisch, ist eines der unumgänglichen Zeichen, dass wir friedvolle Besucher guten Willens sind oder besser gesagt, dass wir eine andere Kultur respektieren.

Es folgte die Begegnung mit Alfredo. Er kam die Dorfstrasse herunter, war etwas überrascht und offenbar erfreut, „Fremde“ hier anzutreffen, machte sogleich „kehrt“ und marschierte mit uns wieder dorfaufwärts. Er war klein gebaut, wie viel Mexikaner; bei seinem Lachen zeigte er seine weissen Zähne.

Ob diese Strasse (eine Naturstrasse) denn weiterführe? No, no, sie ende bei der Kirche; ob er uns die Kirche zeigen solle? Claro; wir sahen das grosse Holzkreuz um seinen Hals und wussten, dass dieses Gebäude wichtig war für ihn. Dort angekommen, kniete er nieder, wir taten dasselbe.

Dies liess mich einmal mehr nachdenken über die Missionierung von Mexiko und anderer Teile durch die europäischen, vor allem der spanischen Orden. Die Halbinsel Baja wurde bereits Ende des 17. Jahrhundert von Mönchen besucht, welche die „heidnischen“ Ureinwohner zum Christentum „bekehren“ sollten. Wenn ich mir vorstellte, wie diese Missionare (Dan meint, es seien Rebellen gewesen, die ihre jeweiligen Klöster loshaben wollten) nach einer langen Schifffahrt über den Atlantik und um das stürmische Kap der „Guten Hoffnung“ herum diese Küsten nach gut neun Monaten erreichten (wenn sie überhaupt hier ankamen), dann mit beladenen Pferden und Maultieren mühsame Wege zurücklegten, versuchten, mit den erstaunten Eingeborenen zu kommunizieren und allmählich Vertrauen zu schaffen, schliesslich zusammen mit ihnen die ersten einfachen Kirchen und Klöster errichteten und den Orten schliesslich Namen aus der „langen Liste der Heiligen“ zu geben ….. Noch nie sind uns so viele Orte begegnet mit der Bezeichnung „Santo oder Santa“, wie eben dieses San José, das dem Heiligen Joseph geweiht ist. Eine Stadt am Pazifik nennt sich sogar  «Todos Santos“, was „alle Heiligen“ oder “Allerheiligen“ bedeutet.

Und unser Alfredo erzählte und erzählte, unter anderem: Von dreihundert Einwohnern sei sein Dorf nun auf 28 geschrumpft, er sei mit dreizehn Geschwistern hier aufgewachsen und zur Schule gegangen; und er sei der einzige, der geblieben sei, und er würde nie, nie weggehen. Alle seine Verwandten würden im Juli zum „Mangofest“ anreisen, dann seien über hundert Personen hier.

So führte er uns durch seine wilde, etwas karge Obstplantage, pflückte für uns herzhaft ein paar Granatäpfel und Grapefruits. Auch den Reiter trafen wir wieder an, und zwar in seinem Garten, von wo er uns Orangen entgegenstreckte. Was für ein geglückter Start in den Tag!

Schliesslich deutete Alfredo auf den kleinen Friedhof; das kleine Haus mit dem roten Dach sei das Grabmahl seiner Grossmutter.

Er begleitet uns zum Camper, öffnete das Tor für uns und winkte uns noch lange nach!

Einmal mehr hatten wir ein paar „Impulse“ erhalten zur Frage, was Glück bedeutet, vielleicht sogar eine der möglichen Antworten gekriegt! Schliesslich kamen wir zufrieden an in der grossen Lagune mit den Walen, die fröhlich um und unter das Boot schwammen, konnten aber keine Babies entdecken. Die waren inzwischen wohl artig herangewachsen bei täglich fünfzig Liter Muttermilch.

März 2019