Auf der Carretera Austral (2017)

Die einen nehmen den CAMINO nach Santiago de Compostela in Spanien unter die Füsse, andere machen die CARRETERA AUSTRAL (die Strasse des Südens) in Chile, die von PUERTO MONTT nach der weit im Süden liegenden VILLA O’HIGGINS führt. Es ist die Ruta 7.

Ob die beiden Wege vergleichbar sind?

In einem gewissen Sinn schon. Beide müssen erarbeitet werden, über circa 1000 km, diesseits und jenseits des Atlantik. Der CAMINO mit seinen 870 km wird meistens zu Fuss zurückgelegt, die AUSTRAL mit ihren 1350 km vorwiegend auf Rädern, wie Fahrrad, Motorrad oder Vierrad.

Wir machten uns mit vier Rädern auf den Weg, mit unserem robusten Volvo. Der Bau dieser “Strasse der Sehnsüchte oder der Träume” war ganz einfach ein Projekt mit praktischem und strategischem Hintergrund. Der Süden von Chile sollte besser erschlossen werden. Es galt, dieses unwegsame Gebiet zu bezwingen. So wurde der Strassenbau 1976 unter der Militärregierung des Diktators Augusto Pinochet in Angriff genommen; teilweise wurden über 10’000 Soldaten eingesetzt.

Die noch fehlenden Teile sind jedoch ungleich schwieriger zu bauen, da das Terrain sehr bergig ist und die Route rund um ein Gletscherfeld herumgeführt werden muss. Die Karten zeigen ungenau, dass ein grosser Teil des Weges noch Schotterstrasse ist. “Ripio” nennt sich das, und ein Teil der Strasse sei “muy ripio”, hat man uns erzählt.

Wir fuhren los, abenteuerlustig, und … es wurde sehr bald “ripio”. Bei trockenem Wetter bedeutet dies trotz prächtiger Landschaft: Staubwolken vor uns, Staubwolken hinter uns, Bäume und Büsche bedeckt mit nicht atmungsfreundlichem braungrauem Staub. Nach dem ersten Teilstück haben wir das Auto ganz gerne auf die Fähre verladen, die uns durch einen langen Fijord ein schönes Stück weiter südwärts beförderte, eine gemütliche Fahrt hinein in den Abend. Da, wie gesagt, Strassenstücke fehlen, erwartete uns nach kurzem Weg eine kleinere Fähre, die mituns in die Nacht hinein fuhr … hinein in eine stockdunkle Nacht mit wiederum anschliessender Schotterstrasse, kein Licht, keine Angaben, nur Autos … mit den Vehikeln vor uns und hinter uns fühlten wir uns wie “Getriebene der Nacht”.

Als die ersten Häuser von CHAITEN auftauchten, war es Mitternacht, also kein guter Zeitpunkt, eine Unterkunft zu kriegen. Die Tankstelle COPEC war unsere einzige Lichtquelle; aber nichts wie weg von der Strasse, um in den hinteren Teil des Autos zu kriechen und zu schlafen. Dies gelang uns recht gut inmitten einer Lava-Wüste zwischen Dorf und Pazifik, Zeichen eines nicht lange zurückliegenden Vulkanausbruchs. Und der Berg “raucht” immer noch, wie so viele in Südamerika!

Am nächsten Vormittag lichteten sich Staub und Nebel, die so viel gerühmten prächtigen Berge Patagoniens mit ihren Gletschern kamen zum Vorschein. Eine gute Gelegenheit, die Weiterfahrt zwischendurch zu unterbrechen, um unsere Beine mit einer Wanderung etwa zu einem Aussichtpunkt etwas zu bewegen.

Die Austral ist bekannt für ihre Anhalter; “Autostöppler” nennen wir sie, diese “Wegelagerer”. Es sind meistens Studenten aus Chile mit lebensneugierigen dunklen Augen; die jungen Menschen sind während der Semesterferien unterwegs, schwer bepackt mit grossen Rucksäcken, an denen Campingsachen baumeln. Sie brachten willkommene Abwechlung in unsere lange Fahrt. Die meisten sprachen mehr oder weniger gut englisch, wir mehr oder weniger gut spanisch. Sie zeigten grosses Interesse an unserer Reiseart und an unserer Lebensaurichtung. Es sei ihr Wunsch, später auch auf diese Weise durch die Welt zu ziehen, meinten die meisten. Dazwischen werden wohl mindestens vierzig Jahre Berufs- und Familiengeschichten liegen. Mögen sie diese Jahre gut meistern!

Einer unserer Wegabschnitt-Begleiter war Javier. Er trug eine Baskenmütze, hatte wenig Gepäck und war sozusagen beruflich unterwegs, als Werbefachmann mit dem Ziel, sich in COYHAIQUE, in der grössten Stadt an der Austral, ein paar Aufträge zu holen. Auf seine Famile angesprochen, erzählte er uns, dass seine Eltern weit im Süden lebten, in PUNTA ARENAS, sein Vater schon seit länger pensioniert sei, “jubilado” also. Was er denn gearbeitet habe, fragte ich nach. Er sei Berufsoffizier gewesen bei der Luftwaffe. Dies liess mich aufhorchen. Das musste doch noch unter General und Diktator Pinochet gewesen sein. Die flogen doch mit etlichen Regimegegnern, meistens jungen Leuten, hinaus ins Meer, um sich dieser “unliebsamen Bürger“ zu entledigen. Als hätte Javier meine Gedanken erraten, sagte er, er hätte keinen Kontakt mehr mit seinem Vater.

Nun, unser Fahrgast genoss mit uns den Apéro-Stop an einem Canyon; er konnte uns nicht nur einiges über Land und Leute erklären, sondern auch einen Tipp geben, wo wir eine gemeinsame Lunchpause einschalten könnten. Er genoss unsere Gesellschaft offensichtlich. Er dürfe sich ruhig einwenig als unseren Sohn fühlen, meinten wir bei unserem lockeren Zusammensein. So sprach er uns dann in seiner späteren E-Mail spasshaft als “mis queridos padres” an, als “meine lieben Eltern”.

Unser Reiseplan war, nach zwei drittel der Strecke die AUSTRAL zu verlassen, um einen der vielen Grenzübergänge nach Argentinien zu schaffen. Wir fassten CHILE CHICO ins Auge, ein malerisches Dorf am Ende des zweitgrössten Sees vonSüdamerika, dem LAGO GENERAL CARRERA. Vorerst fanden wir einen gepflegten Zeltplatz in PUERTO RIO TRANQUILO, direkt am Wasser.

Ununterbrochen fuhren mit Touristen beladene Boote hinaus zu den Marmorhöhlen. Die grosse Zelt-Wiese war wohl der richtige Platz, am nächsten Tag die Teil-Sonnenfinsternis zu beobachten, und dies in überraschender Gesellschaft. Rita und Beat aus Inwil/Luzern “abenteuerten” auch auf der Austral, brachten für dieses “Sonnenereignis” sogar Schutzbrillen mit. Es stellte sich schnell heraus, dass wir in der Schweiz gemeinsame Bekannte hatten. Ja, wieder mal einwenig “Klatsch und Tratsch” auf “Schwyzerdütsch”, das war so wohltuend für mich.

Die Weiterfahrt entlang des Sees wurde trotz Schotterstrasse zu einem für uns schönsten Abschnitte an der AUSTRAL. Nachdem die begrünte Landschaft hinter uns lag, offenbarte sich uns die Wüstenlandschaft mit grünblauen, unberührten Buchten, farbigen Felsen, auf denen sich wilde Ziegen oder sogar Steinböcke tummelten. Wir hielten an, um auf einem Felsenvorsprung zu stehen, recht überwältigt runterzuschauen auf das silberglänze Wasser und hinüber zur grossartige Andenkette mit ihren hohen weissen Wipfeln und Gletschern. Was für eine Kulisse, was für ein Land, dieses Chile!

Auf der anderen Seite der Anden lag Argentinien, unser Ziel am nächsten Tag. Unser Staunen war gross, als wir am Grenzübergang ziemlich brüsk gestoppt wurden. Wegen des verstärkten neuen Gesetzes könne eines von Ausländern in Chile gekauftes Auto nicht über die Grenzen gebracht werden. Da nützte es auch nichts, mit unseren Pässen zu bestätigen, dass wir an Weihnachten probemlos mit eben diesem Fahrzeug nach Argentinien gelangen konnten. Dies sei ein Versehen gewesen, mangelhafte Kontrolle, liess man uns wissen. Der herbeigerufene Inspektor machte mit seinen gekreuzten  Armen klar, dass ihm die Hände gebunden seien. “Lo siento mucho”, es täte ihm Leid.

Ich stellte mir vor, wie dieser Inspektor schliesslich ein Auge zudrückte, um dann nachträglich einen Verweis zu erhalten oder gar “degradiert” zu werden, mit ein paar Streifen weniger an der Uniform grübelnd auf einem nun nicht mehr gepolsterten Stuhl sass. Und sich dabei nochmals die Szene durch den Kopf gehen liess:

“Zwei Ausländer, ein Amerikaner, ein “Gringo” also, und eine Schweizerin! Dank seiner Grosszügigkeit tummelten sie sich nun drüben in diesem Argentinien, bei diesen Nachbarn mit ihren ständigen Feiern bei “Asado”, den weltberühmten saftigen Fleischstücken auf dem grossen Grill. Diese Leute gehören doch noch zu den Wilden! Gut, haben wir damals den Engländern im Falklandkrieg erlaubt, ihre Kriegsschiffe an unseren Häfen aufzutanken; das hätte gerade noch gefehlt, dass diese prachtvollen Inseln draussen im Meer nun Argentiniern gehörten!

Und diese Schweizerin! Was wollte die überhaupt hier? Sie kommt doch aus einem Land, welches, soviel man mir erzählt hat, “abgeschlossen” ist. Kein Ausländer kommt da rein, kein Einheimischer geht raus. Recht haben sie; all› diese mühsamen Grenzformalitäten fallen nämlich weg; dort braucht es keine Inspektoren wie mich, die schlussendlich noch “gerüffelt” werden”.

Nun, wir versuchten es noch an zwei anderen der vielen Übergänge doch noch zu diesen “Wilden” zu geraten, aber da war nichts zu machen .. einfach nichts … nada ..,meinten auch die anderen Inspektoren.

Für uns bedeutete dies, unseren Reiseplan zu ändern. Wir wollten aber nicht mehr den ganzen Weg der Austral zurückfahren und “erlickten” die Möglichkeit, auf dem Inselweg via CHILOE einen grossen Teil der “Ripio” zu umgehen. Mit einer zehnstündigen Fahrt auf einer grossen Fähre gelangten wir von PUERTO CISNES aus zur Insel, wo uns unvorhergesehen der Gastgeber Nelson mit seinem Parque PUDU erwartete. Er hatte die verspielten Waldwege des Parks selber angelegt. Er war ein wahrer Kunsthandwerker, hatte auch sein Haus selber gebaut, die Möbel dazu geschnitzt, machte Musik auf der Gitarre und auf dem Akkordeon und sang mit einer wunderbaren Tenor Stimme. Schlussendlich versuchte er, uns die Tänze der Osterinseln beizubringen; dort nämlich hatte er ein paar Jahre verbracht.

Und wir blieben halt wiederum mal länger als vorgesehen.

Überhaupt lernten wir durch die aufgezwungene Änderung unseres Plans so viele neue Aspekte von Chile kennen, neue Seen-Landschaften, neue, versteckte Plätze am endlosen Pazifik, die wir über kurvenreiche Abstiege erreichten, immer auf “Ripio-Strassen und -Strässchen”.

Nun stehen wir am Ende unseres Aufenthalts bei den “Latinos”. Während fünf Monaten in diesen prachtvollen, langgezogenen Ländern Argentinien und Chile sind wir von der Wüstenlandschaften im Norden zu den Gletschern des Südens gereist. Wir trennen uns von unserem Reisegefährt, unserem so treuen Auto, “nuestro fidel coche”. Pilar und Rodrigo, unser Freundespaar in VINA DEL MAR schlagen vor, Ostern mit ihnen und den zwei Hunden auf dem Campingplatz PUERTO OSCURO zu verbringen. So packen wir unsere Camping Sachen in ihr zweites Auto und fahren auf der Ruta 5 drei Stunden nordwärts. Wie so oft am Pazifik, stossen wir auf eine kleine, windige, wilde Bucht. Nochmals wandern wir durch die wüstenähnlichen Kakteenlandschaften, am Abend wird gekocht und wir wärmen uns am Feuer, bei “süffigem” chilenischem Wein. Es ist Herbst geworden, Zeit zu gehen!

Die Camping-Ausrüstung und einiges mehr bleibt in Südamerika. Vielleicht werden wir in ein paar Jahren zurückkehren. Si Dios quiere!

17. April 2017