Mutter und Sohn an unserem Lagerfeuer

Wir befanden uns mit unserem bescheidenen Zelt am Finnon Lake, an einem kleinen idyllischen See in Kalifornien.

Eines Abends parkte ein Auto just auf dem Nachbarplatz, obwohl es viele andere freie Zeltplätze hatte. Eine Frau mit einem kleinen Jungen stieg aus. Die junge Frau begann, fast endlos Boxen und Decken auszuladen, um dann allmählich das kleine Zelt aufzustellen.

Ich begann zu mutmassen:
“Ist dies eine alleinerziehende Mutter, ist es vielleicht eine Patin mit dem Patenkind, ist es eine Ehefrau, deren Mann am späten Abend oder erst am nächsten Tag eintrifft?”

Niemand traf ein. So rief Dan sein „welcome here“ hinüber, worauf der Knirps zu uns kam, um mit gewichtiger Miene seinen Namen und sein Alter mitzuteilen. Wir hatten uns ja auch „in aller Form» vorgestellt und ergänzt, dass wir von einem Land ins andere reisen würden.

Er heisse Esaia und zähle sechs Jahre. Der ausserordentlich hübsche Knabe mit blonden Haaren, lebhaften Augen und einer grossen Neugierde fragte als erstes, ob wir China auch besucht hätten. Wir mussten leider verneinen, sagten aber, dass wir von Vietnam aus einwenig hinüberschauen konnten. Das fand er „cool“.

Wir planten, wieder mal einen Freiluft-Risotto-Abend zu machen, am liebsten natürlich mit Gästen. Es war naheliegend, die neuen Zuzüger einzuladen. Sie sassen auf einer Decke in ein Kartenspiel vertieft und freuten sich sehr über die Aussicht, den Abend in unserer Gesellschaft zu verbringen.

Sie kamen, Tona mit einem Bier in der Hand, da sie besser keinen roten Wein zu sich nehme, um nicht betrunken zu werden. Sie trug immer noch ihren langen Morgenmantel mit dem Tigermuster, dazu die weinfarbene Wollmütze, die unter einer dunklen Kapuze hervorschaute. So sei es ihr am wohlsten. Sie sagte, es sei das erste Mal, dass sie von Campingnachbarn eingeladen würden. Und sie hätte den Platz neben uns gewählt, um sich sicher zu fühlen.

Wir assen vergnüglich Dans ausgezeichneten Risotto; für Esaia gab’s eine Extra-Portion ohne Pilze. Es war eine gemütliche Stimmung und wieder mal offensichtlich, dass nirgendwo das Essen besser schmeckt, als mit spannenden Menschen draussen in der Natur. Ich hatte ein Kinderbüchlein dabei mit Joke-Fragen, wie zum Beispiel: „Why did the sun go to college? To became „brighter“ … klar, oder? Es gab viel zu lachen bei diesem Frag- und Antwortspiel. Der Knabe versuchte, selber zu lesen oder beschäftigte seine Mamma damit.

Als wir dann am Feuer sassen, sagte Tona, sie hätte am Vorabend immer zu unserem grossen Feuer herübergeschaut, da sie an ihrem Feuerchen gefroren habe. Ja, wir konnten unsere Beine, ich vor allem die Knie, wunderbar warmhalten dank der übergrossen Tannzapfen, die wir säckeweise gesammelt hatten und die so wunderbar lange brannten. Leider hatte sich frierende Tona nicht bemerkbar gemacht.

Sie begann, einwenig aus ihrem Leben zu erzählen:
Mutter und Vater seien drogenabhängig gewesen, so dass sie als Kleinkind „umplatziert» wurde. Sie hätte es gut gehabt bei den neuen Eltern.

Sie sei bei einem Bestattungsinstitut angestellt und verdiene dabei genügend Geld. Obwohl das kalifornische Gesetz verbiete, die Asche der Verstorbenen in der Natur zu verstreuen, würden immer mehr Leute diesen Weg wählen.

Sie verbringe im Sommer meistens alle zwei Wochenenden mit ihrem Sohn auf einem Campingplatz. Und so nebenbei fiel die Bemerkung, Esaias Vater sei im Gefängnis ….. und …. sie sei sehr gefordert mit ihrem Sohn, auch intellektuell. In ihren “ernsthaften” Zwiegesprächen konnten wir dies schnell feststellen.

Auf die Frage, wie es ihm denn so gefalle im Kindergarten, meinte Esaia: «It sucks .. because .. it’s too boring» … halt langweilig, eine nicht überraschende Aussage eines unterforderten Kerlchens.

Esaia trug die graue Wollkappe seines “Grossvaters”, des Pflegevaters seiner Mutter Tona. Dieser war Helikopterpilot gewesen im Vietnamkrieg und überlebte einen Absturz. Dafür hatte er sich wohl bei diesen Gifteinsätzen einen Gehirntumor geholt, wie so viele seiner Kriegskumpanen, die auch zu Krebsopfern wurden. Er sei vor einem Jahr im Alter von nur 65 Jahren gestorben. Die Mutter kämpfe um die Anerkennung der Kriegsschädigung.

Unter anderem waren plötzlich auch “Piercings“ ein Thema. Seine Mamma hätte auch solche … und nach einer längeren Pause … an den „Nipples“. Dabei kicherte er und löste auch bei uns viel Heiterkeit aus.

Wir tauschten die Email-Adressen aus. Wir würden gerne von Zeit zu Zeit etwas über Tona und ihren Sohn Isaia erfahren und sie möglicherweise in zwei Jahren wiederzusehen. Vielleicht ist sein Dad bis dann aus dem Gefängnis entlassen.

Zum Abschied am nächsten Morgen winkte der kleine Mann und rief uns zu: «Have a nice day»! «You too, Esaia, it’s Mother’s Day” riefen wir aus dem Autofenster.

Für alle Menschenkinder gilt doch dasselbe: «Mal hart, mal heiter». Und machmal lohnt es sich wirklich, die “Nachbarn” einzuladen!!

Mai 2017