Boom-boom Shiva

Gypsie ist von eher kleiner Gestalt. Ihre langen, dunklen Haare lassen ihr Gesicht markant erscheinen. Mit ihrer kantigen Nase sieht sie aus wie eine Indianerin. Sie stammt ursprünglich aus Paris, aus einer angesehenen Familie. Einer ihrer Brüder ist dort katholischer Priester.

Mit zwanzig Jahren war Mademoiselle Ch. aus dem „Establishment“ ausgebrochen, um mit Gleichgesinnten nach Goa zu reisen. Es begann für sie eine wilde, verrückte Zeit.

Dieser indische Staat am arabischen Meer war einer der Ausgangspunkte der Hippie-Bewegung. Lockere Beziehungen zu knüpfen war damals leicht, dies meistens unter dem damals schnell um sich greifenden Slogan „make love, not war“. Damit war auch der sinnlose Vietnam Krieg angesprochen.

Gypsie wurde schwanger. Der Vater des Kindes war Gansha, ein Amerikaner, der sich diesen indischen Namen zulegte. Er hatte früh in Physik doktoriert, war sozusagen ein „Hippie-Professor“. Sie hatten kein Geld, als die erste Tochter zur Welt kam, und die Lebensweise der Mutter machte auch das Stillen schwierig, wie Gypsie mir erzählte. Als die zweite Tochter da war, zog die Familie nach Amerika, in das Land von Gansha.

Dort bauten sie einen grossen Bus zum Wohnwagen um und zogen durch die Staaten. Die Mädchen wurden zu Hause unterrichtet, „homeschooled“ nennt man dies; sie konnten mit drei, vier Jahren bereits lesen. Beide haben den Anschluss an die Universität geschafft; Sarah Moon ist Ärztin in Kalifornien, Serena Sun arbeitet für internationale Entwicklungsprojekte in Washington.

Inzwischen ist Gypsie froh um die kostenlose medizinische Unterstützung von Sarah Moon; sie leidet nämlich an schwerer Arthrose; ihre Finger sind verkrümmt, und sie hat andauernde Rückenschmerzen.

Sie hat Goa zu ihrem Wohnsitz gewählt. Seit vierzig Jahren lebt sie zur Hälfte des Jahres dort. Die übrige Zeit reist sie durch die Welt, bedient sich an Flughäfen des Rollstuhls und findet als unkomplizierter Gast immer irgendwo auf der Welt freie Unterkunft.

Ihr Sohn Neptune ist ein Nachzügler; auch er hat die enorme Energie seiner Mutter. Während der Wintermonate lebt er in Goa und führt regelmässig Kunst-Events in ganz Indien durch. Während des Sommer-Monsuns zieht er als Einradkünstler durch die Welt. Er spricht fünf Sprachen, hat drei Reise-Pässe, versteht sich als Maler der indischen Mythologie und ist ein begabter Mundharfe Spieler.

Wie er hat auch seine Mutter Gypsie das besondere Talent, für sich und für andere Geld zu beschaffen. Sie bringt von Indien jeweils wunderbare Textilien nach Amerika, vom leichten bunten Kleid bis zur kostbaren Decke. An der „Country Fair“, der grossen Party in Oregon, lässt sie sich ein Zelt aufstellen, das als Verkaufsstelle dient. Mit ihren Waren bedient sie auch verschiedene Shops. Daneben sammelt sie Geld für ein Hilfsprojekt im Nepal, das elternlosen Kindern ein Daheim gibt. Und in Goa führt sie eine Bibliothek mit englischen Büchern, vor allem mit Kinderbüchern. Und sie gehört zum Ring der „Grossmütter der Welt“.

Ich habe mit Gypsie einige Wochen im Haus unseres gemeinsamen Freundes Bob gelebt. Es war eine bunte, lebhafte Zeit. Sie wünschte sich kein Zimmer im oberen Stockwerk; sie wollte möglichst nahe bei den vielen Besuchern und somit am „pulsierenden Strom des Lebens sein“. So hatte sie sich im Wohnraum ihr kleines, farbiges Reich eingerichtet; jeder Gast konnte es sich in ihrer Ecke gemütlich machen. Sie war auch der „Discjockey“ des offenen Hauses und beglückte uns mit Musik aus aller Welt. Zwischendurch bereitete sie in einer grossen Pfanne den berühmten Chai Tee zu. Der Begriff „Chai“ steht in Indien für ein Nationalgetränk, das aus schwarzem Tee, Gewürzen, Milch und dazu Honig oder Zucker hergestellt wird. Wir liebten es, wenn sich dieser exotische Duft im Haus ausbreitete.

Und wenn sie dann die Männer bat, einen „Lady Joint“ zu drehen, war besonderer Spass für Frauen angesagt. Mit ihrem lauten „Boom-boom Shiva“ wurde die Zeremonie eröffnet, was mir allemal nicht nur des Dunstes wegen, sondern auch vor lauter Lachen die Tränen in die Augen trieb. Wo Gypsie war, herrschte Heiterkeit.

Gypsie gehört zu jenen Alt-Hippies, die niemandem zur Last fallen, schon gar nicht „ihrem“ Land Indien, das mit einigen der dort „Hängegebliebenen“ gefordert ist. Sie möchte auch nicht Hippie genannt werden, sondern „la Bohème“. Das passt besser zu einer Tochter, die ursprünglich aus der Weltstadt Paris kommt.

Wenn wir uns gegenseitig schreiben, eröffnen wir unsere Korrespondenz jeweils mit „Boom-boom Shiva“. Shiva, der „Glückverheissende“, ist einer der wichtigsten Götter des Hinduismus. Er verkörpert Schöpfung und Neubeginn, Erhaltung und Zerstörung.

August 2017