Der Geschichtenerzähler

Jeff war auch an der grossen Party, an dieser privaten Country Fair, welche tage- und nächtelang dauert. Sie fand während der letzten zehn Jahre in Bobs Haus oder besser in jeder Ecke der Liegenschaft statt, auf dem Vorplatz, beim Hauseingang, auf den Balkonen, vor und hinter dem Haus, in der Wiese, die einer grossen Waldlichtung gleichkam. Dort vor allem standen die Zelte, derer immer mehr wurden und die dem Fest einen zusätzlich farbigen Rahmen gaben. Und die Kühlboxen rundeten dieses bunte Bild ab. Die meisten waren vollgestopft mit Bier, mit diesen „aluminum cans“, welche von den Gästen als willkommene Gabe mitgebracht wurden.

Jeff war bestimmt kein Party-Gänger, gehörte ganz offensichtlich auch nicht zu den Bierdrinkern, eher zu den „gehobenen“ Geniessern. So hielt er nicht eine dieser Aluminiumdosen in der Hand, nein, es war ein Weinglas, gefüllt mit dunkelroter, perlender Flüssigkeit. Bestimmt waren ein paar der eleganten Kelche Bestandteil seines Gepäcks, samt dem Wein, importiert aus Frankreich, und … nur den Kennern vorbehalten. Zu diesen wollte ich mich ganz gerne zählen; ich blieb in Jeffs Nähe.

Es war nicht nur der Wein, sondern auch seine Gestalt, die mich neugierig machten: eine hohe Stirn, kleine, ganz dunkle Augen, eine Adlernase. Das schwarze Haar war nach hinten gekämmt und fiel seitlich lockenartig auf die Schultern. Er trug ein langes gelbfarbenes Kleid, vermutlich indischer Herkunft, das bestimmt auch den Zweck hatte, seinen beachtlichen Bauch zu verbergen.

So müsste ein Philosoph aussehen, und zwar ein jüdischer, mutmasste ich. Auf den ersten Blick schien es, als betreibe er lebhafte „Conversation“ mit ein paar Gästen. Wie es sich aber bald herausgestellte, war es eher ein Monolog, Jeffs Monolog, wie ich im Verlauf der Party immer wieder feststellen konnte. Und dieser kam mir eigentlich ganz gelegen, bin ich doch der englischen Sprache nicht sehr zugetan. Die seltsamen Gaumenlaute erinnern mich nämlich an ein immerwährendes Gähnen; zum Glück war hier ein echter Dialog nicht gefragt.

Jeffs einseitige Unterhaltung war bemerkenswert, ausholend, „bespickt“ vor allem mit Ereignissen aus dem Kontinent jenseits des Atlantik, von Europa nämlich, und reichlich gefüllt mit so Genüsslichem wie Kunst, Essen, Trinken, Kunsthandel, Adel und Herrlichkeit. Er wusste Bescheid über die Habsburger, hatte die Schlösser an der Loire besucht und anscheinend in einer der Prunkbauten eine Nachfahrin aus den Glanzzeiten der Aristokratie getroffen. Geschichten … ausgeschmückt oder nicht, übertrieben oder nicht, es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören ….. Erzählungen wie aus „Tausend und einer Nacht.“

Ich stellte mir vor, wie Jeff wohl wohnen würde. Er musste wohl ein grosses Haus besitzen, eine Residenz vielleicht mit stilvollen Räumen, vollgestopft mit Büchern, die Wände behangen mit kostbaren Bildern. Zu meiner grossen Überraschung waren Dan und ich zu seiner Party eingeladen, als wir bei Freunden in Santa Cruz in der Nähe von San Francisco weilten.

Als wir bei ihm eintrafen, stand er an der Grillstätte im mystischen Licht seines Gartens mit einem diesmal noch grösseren Weinglas in der Hand. Als erstes bot er uns etwas von dem edlen Tropfen an, sich unseres ersten Treffens wohl erinnernd. Daneben war die Verpflegung recht amerikanisch, unkompliziert eben; zwischen dem vielen Mitgebrachten, wie Salaten, Saucen, Krackers, Kuchen, fand man mit etwas Glück einen Teller und setzte sich möglichst ohne zu zaudern auf einen gelegentlich freigewordenen Stuhl.

Noch während des Essens fragte uns Jeff, ob wir an einer Führung durch sein Haus interessiert wären; zweifelsohne, damit sprach er mir aus dem Herzen. So humpelte er unserer kleinen Gruppe voraus und stützte sich dabei noch mehr auf seinen Stock mit dem elfenbeinernen Griff als vor zwei Jahren. Und es wurde zu einer Führung durch ein privates Museum, was mich ganz und gar nicht überraschte.

Wie jeder Raum hatte jedes Bild, jeder Kunstgegenstand seine eigene Geschichte. Da zeigten sich Beziehungen noch und noch, auch zu noch lebenden Kunstschaffenden. Wenn er beobachtete, dass einer der Gäste ein Bild oder eine Figur eingehender betrachtete, lieferte er sofort die dazu gehörende Geschichte: Warum dieses Werk entstanden sei, wer zum Freundeskreis des Kunstschaffenden gehöre und … das wichtigste, wieso es hier in seinem Salon sei, nachdem es zuerst über dem Cheminée im anderen Raum seinen Platz gehabt hätte; hier passe nun zum Malstil des anderen Bildes, das er aber bald weiterverkaufe, da es die Sammlung einer Freundin ergänze …. usw. usw.

Er schätzte es offenbar nicht, wenn er in seinen Schilderungen unterbrochen wurde; er ging auf eine gelegentliche Frage nur kurz ein, um dann in seinen Ausführungen unbeirrt weiterzufahren.

Wie seine Geschichten, so war auch sein altes Haus verschachtelt, zum Teil nach seinen Plänen umgestaltet, wie er betonte. Da er anscheinend nur noch mühsam die Treppe in sein ehemaliges Reich hochgehen konnte, hatte er einige Räume vermietet, vorwiegend an junge Leute.

Es war offensichtlich … er hatte auch hier eine gute Auswahl getroffen; sich mit dem „Feuer der Jugend“ zu umgeben, wenn die eigene Flamme schwächer wird, scheint mir ein geschickter Zug zu sein.

Und wenn seine Fortbewegung einmal ganz eingeschränkt sein wird …. er wird wohl fortfahren mit seinen Ausführungen, sich vielleicht wiederholend.

Wir werden ihn bald wiedersehen an der jährliche Country Fair in Oregon. Er wird dort sein, den Wein bereit halten …. samt seinen alten und neuen Geschichten!

Juni 2017