Träume

Dan und ich waren auf dem Weg von Südamerika in die USA und warteten am Flughafen von Mexico-City auf einen Anschlussflug. Es war Morgendämmerung, und das Leben auf der Flugpiste erwachte.

Ein Flugzeug der „Alaska Airlines“ stand nahe am Terminal zum Start bereit. Ein verhältnismässig kleines Fahrzeug, ein sogenannter Flugzeugschlepper, koppelte sich an das vordere Rad des Flugzeugs an. Dann folgte der „Push-Back“ (genaue Übersetzung: «drück-zurück»). Da die Piloten so dicht am Gebäude die Triebwerke noch nicht starten dürfen, schiebt dieser Flugzeugschlepper das Flugzeug aus dem Gate. Während die Maschine langsam auf die Start- und Landebahnen gestossen wird, werden die Triebwerke nacheinander gestartet. Dabei können die Passagiere ein Zischen und Brummen hören. Der Flugzeugschlepper koppelt sich wieder ab und rollt zur Startbahn zurück. Nun kann sich das Flugzeug selbständig auf den Weg in die Lüfte machen.

Als sich dieses kleine, wohl sehr starke Fahrzeug vom „grossen Vogel“ löste, konnte ich beobachten, wie der Fahrer seine Hand hob. Ich vermutete, dass er die Piloten hoch oben in der Kabine zum Abschied grüsste.

Der Fahrer in seiner orange-grünen Sicherheitsweste brachte seinen Schlepper zurück zum Flughafengebäude und blieb in seiner kleinen Maschine sitzen; er wartete bestimmt auf den nächsten Einsatz; vielleicht galt dieser unserem Flugzeug.

Ich stellte mir vor, wie dieser Fahrer, ich nenne ihn Pablo, sich heute morgen für die Morgenschicht bereit machte. Er stand früh genug auf, um seinen Kaffee zu geniessen, den ihm seine Frau in einer Thermosflasche bereit gestellt hatte. Dabei blätterte er nochmals die Zeitung des Vorabends durch und schaute sich die Wetterprognosen für die kommenden Tage an: zum Glück zeigten sich keine Stürme oder Turbulenzen über der unendlichen Wüste von Mexiko; dies bedeutete „normaler Flughafenbetrieb“ für die nächsten Tage.

Auch wenn die Wetter-Aussichten anders lauten würden, sie würden Pablo nach so vielen Jahren kaum aus der Ruhe bringen. Er würde seinen Dienst am Mittag beenden. Wie immer würde er das einfache Mahl und die Gesellschaft seiner Frau bei Tisch schätzen. Sie würde ihn nichts fragen, sie kannte ihn und seine Arbeitswelt; er war zufrieden damit.

Er hatte heute ein Magazin nach Hause gebracht, auf dem in grossen Lettern ALASKA prangerte. Sein bester Arbeitskollege, Pedro, habe es ihm gegeben. Und überraschend kündigte er an, dass er mit ihr in einem Monat nach Alaska verreisen werde. Bei der „Alaska Airlines“ arbeiteten nämlich die freundlichsten Piloten. Zudem müsste er seine Überstunden vor Jahresende beziehen,

Und in diesem Heft sei unter anderem ein grosser Beitrag über die Bären.

Als Pablo sich für den Mittagsschlaf zurückzieht, blättert seine Frau im Magazin und stösst auf den Artikel über die Bären. Sie sieht eindrückliche Bilder über diese Tiere  und liest: „Der Grizzlybär ist normalerweise Einzelgänger und sowohl tag- wie nachtaktiv. Er liebt die Regionen, in denen er selten mit Menschen zusammentrifft, da er zu den scheuen Tieren gehört. Ein besonders üppiges Nahrungsangebot, wie es in beerenreichen Regionen oder an Flüssen während der Laichzeit der Lachse besteht, führt manchmal zur Ansammlung vieler Bären. Ihr Geruchsinn ist hundert mal stärker als der der Menschen. Je nach Windrichtung können sie über zwanzig bis sogar dreissig Kilometer riechen.

Trotz seines massigen Körperbaus kann der Grizzlybär eine Geschwindigkeit von über 60 km der Stunde erreichen. Auf der  Jagd bewegt er sich allerdings meist in gemächlichem Tempo. Normalerweise geht er auf allen vieren. Um einen besseren Überblick zu erlangen, kann er sich auf die Hinterbeine stellen und so auch einige Schritte gehen. Wenn er zudem mit den Vordertatzen wedelt, ist er eher unsicher und nicht angriffig.

Grizzlies halten während der kalten Jahreszeit eine Winterruhe. Da die Körpertemperatur nur wenig zurückgeht und sie leicht aufzuwecken sind, spricht man nicht von einem echten Winterschlaf. Um sich darauf vorzubereiten, legen sie im Spätsommer und Herbst einen Fettvorrat an.

Aufgrund seiner grossen Kraft kann ein einziger Biss oder Tatzenhieb eines Bären beim Menschen schwere Verletzungen oder sogar den Tod verursachen. Üblicherweise entfernt sich der Bär aber, wenn er Menschen herankommen hört.“

Je mehr Pablos Frau über diese Tiere und über Alaska liest, um so spannender findet sie den Plan ihres Mannes. Sie freut sich auf die Reise, auch wenn sie vermutlich keinem Bären begegnen würden.

Als sie sich dann nachts an ihn schmiegt und seine „behaarte“ Brust spürt, denkt sie, er sei doch auch so eine Art Bär, ihr Pablo. Es fühlte sich so gut an, neben ihm einzuschlafen. Ob sie wohl von Alaska träumen würden?

April 2017